Schon viel wurde über die sensationelle Netflix-Miniserie “Das Damengambit” geschrieben, die nach heutigen Stand die bisher am häufigsten gestreamte Miniserie des Senders ist und sich nach fast 2 Monaten immer noch in den Top-10-Seriencharts hält. Bei der Serie stimmt vieles: Die Schachszenen sind dank der Beratung von Ex-Weltmeister Garry Kasparov und dem berühmten Schachtrainer Bruce Pandolfini stimmiger als in den meisten anderen Filmen, in denen Schach eine Rolle spielt. Gerade für Schachenthusiasten finden sich viele kleine faszinierende Details, die man zum Teil erst auf zweiten Blick erkennt, und Parallelen zur Schachgeschichte. Dazu kommen eine tolle Story (die Serie wurde schon mit Filmklassikern wie “Club der toten Dichter” und “Good Will Hunting” verglichen) und eine opulente Ausstattung, sei es hinsichtlich der Wohnungseinrichtungen aus den 50er und 60er Jahren, sei es hinsichtlich der Kostüme, und so ist die Serie eben nicht nur für Schachspieler interessant. Passenderweise verlor das “Queen’s Gambit” und ihre Protagonistin Elisabeth “Beth” Harmon ihre Netflix-Spitzenposition nach einigen Wochen an eine andere Queen Elizabeth, nämlich an die englische Königin in der neusten Staffel der Serie “Crown”.
Auch die Auswahl der Schachpartien der Serie zeigt, wie detailgetreu man arbeitete. Es wurden ausnahmslos wirklich gespielte Partien verwendet, die aber (vermutlich von Kasparov) teilweise im Partieverlauf und dem daraus resultierenden Ergebnis angepasst wurden. Daher wäre eine Nennung der Originalpartien noch nicht einmal ein Spoiler, da das Ergebnis zum Teil anders ist. Um die Züge gerade beim Blitzschach realistisch wirken zu lassen, wurde für Hauptdarstellerin Anya Taylor-Joy sogar ein “Handdouble” verpflichtet, nämlich keine geringere als die deutsche Nationalspielerin Filiz Osmanodja. Große Teile des Films wurden ja in Berlin gedreht, wo Filiz Medizin studiert. Manche Schachspieler erinnern sich vielleicht noch, dass es vor etwa 2 Jahren mal in der Berliner Schachszene einen Aufruf an Schachspieler gab, sich als Statist für eine Fernsehserie zu bewerben.
Die Serie hat weltweit zu einem unglaublichen Schachboom geführt. Lt. eines Interviews, das Conrad Schormann von den “Perlen vom Bodensee” mit dem Topschach-Gründer Benjamin Aldag führte, werden aktuell vor Weihnachten sogar hochwertige Holz-Schachbretter knapp. Und bei der Londoner Chesstech-Konferenz Anfang Dezember bemerkte Chris Callahan von der gerade seit Beginn der Corona-Krise erfolgreichen kostenlosen Online-Plattform Lichess, dass er für Cloudspeicher immer mehr Geld braucht, weil sich dank Netflix die Nutzerzahlen direkt mal verdoppelt haben.
Die einzige Institution, an der der Boom bisher leider vollständig vorbeigeht, ist der Deutsche Schachbund, der aktuell mehr damit beschäftigt ist, sich selber zu zerfleischen, anstatt diese Steilvorlage für die Popularisierung des Schachs in Deutschland zu nutzen, noch dazu wo die Serie zu einem nicht unerheblichen Teil in Berlin gedreht wurde. Themen, mit denen sich der Schachbund stattdessen beschäftigt, sind unter anderem der Rücktritt des Leistungssportreferenten, die Entlassung des Bundestrainers auf Druck eines Großteils der Nationalspieler und die (gelinde gesagt) nicht gerade konfliktfrei verlaufende Ausgründung der Deutschen Schachjugend.
Doch jetzt zurück zur Netflix-Serie: ein paar der schönen schachlichen Details möchte ich im Folgenden erwähnen. Gerade zu der Karriere von US-Schachlegende Bobby Fischer gibt es einige Parallelen und Anspielungen, auch wenn Beth Harmon mit Bobby Fischer ansonsten gerade auch charakterlich wenig gemeinsam hat. Zum Beispiel zeigt das Titelblatt der Ausgabe der Schachzeitung, die Beth in einer Szene im Laden mitgehen lässt, in der Serie ihren Rivalen Benny Watts, das Original genau dieser Ausgabe zeigte Bobby Fischer. Eine ganz subtile Anspielung auf Bobby Fischer wurde mir erst bei einer meiner letzten Trainingsessions klar, als wir eine Partie von Bobby Fischer gegen Max Euwe diskutierten, die einen seiner ersten Siege gegen die Caro-Kann-Verteidigung zeigte. Gegen diese Eröffnung hatte Bobby Fischer gerade anfangs seiner Karriere immer wieder Probleme. Und Beth Harmon ist (ebenfalls in den Anfängen ihrer Karriere) zunächst sehr verwundert über diese ihr (noch) fremden Verteidigung, als diese während der Meisterschaft von Kentucky das erste Mal gegen sie aufs Brett kommt. Auch die Vorliebe für den Najdorf-Sizilianer mit Schwarz teilen beide.
Man sollte die Serie möglichst im englischen Original sehen, da sich in die deutsche Synchronisation doch die ein oder anderen Fehl-Übersetzungen eingeschlichen haben, offenbar fehlte da ein (deutschsprachiger) Schachexperte. “She played the sicilian” wird beispielsweise mehrfach mit “sie spielte die Sizilianische” anstatt “sie spielte sizilianisch” übersetzt, und die Empfehlung “you should not play too many opens” wird übersetzt als “du solltest nicht zu viele Eröffnungen spielen”, da wurde “Open” = “offenes Turnier” und “Opening” = “Eröffnung” verwechselt, und die deutsche Übersetzung macht in diesem Fall einfach überhaupt keinen Sinn. Aber Synchronisation von Filmen ist immer so eine Sache, ein Klassiker ist z.B. der “Mikrochip aus Silikon” (im Original Silicon=Silizium) in der deutschen Synchronisation eines älteren James-Bond-Films.
Ein paar Haare in der Suppe findet man natürlich immer, zum Beispiel wird in vielen Schachszenen während der Turnierpartien immer sehr schnell gezogen, was außerhalb der Eröffnungsphase meist nicht ganz realistisch ist, aber natürlich dramaturgische Gründe hat. Dafür dann wieder sehr schön: Die “Liveübertragung” der Partien in Moskau an die außerhalb des Turniersaals versammelten Zuschauer erfolgt durch hin- und herlaufende Jungen, die alle neuen Züge verkünden. Heute gibt es natürlich bei allen großen Turnieren Liveübertragungen über digitale Bretter, aber ab und zu muss man auch heute noch zu anderen Medien greifen. Die Szene erinnerte mich nämlich an eine Geschichte aus der letzten Runde der Schach-Frauen-Bundesliga. Aufgrund einer fehlenden Liveübertragung wurde die entscheidende Partie im Frauenbundesligakampf zwischen Bad Königshofen und Baden-Baden zwischen Dina Belenkaya und Zansaya Abdumalik durch einen “Spion” vor Ort über einen Whatsapp-Chat zum Meisterschaftskonkurrenten Schwäbisch Hall nach Lehrte übertragen, siehe auch hier und die Bilder unten.
Und jetzt noch zu einigen Partien in der Serie: die Vorlage von Beths entscheidender Partie gegen ihren russischen Rivalen Valeri Borgov (hier ging es übrigens um den Turniersieg und nicht, wie viele schreiben, um den Weltmeistertitel) war eine spektakuläre Remispartie von Ivanchuk gegen Wolff beim Interzonenturnier in Biel 1993. Fun-Fact am Rande: Der Ukrainer Ivanchuk ist dafür bekannt, während der Partie häufig nicht aufs Brett, sondern oft gerade auch an die Decke zu schauen, und Beth Harmon sieht im Film dort immer wieder die sich bewegenden Schachfiguren. Auch die einzige Partie, die Beth gegen einen noch jüngeren Spieler spielt, hat eine reale Vorlage, und zwar die Partie zwischen Dmitry Jakovenko, der einige Jahre für die Schwäbisch Haller Bundesligamannschaft spielte, und Daniel Stellwagen aus dem Jahr 2007, die remis endete. Die Filmemacher verbesserten die Partie um den fantastischen Abgabezug 40.h5!! (ja, in dem Film gibt es noch Hängepartien, die die Älteren unter uns noch von früher kennen), den Jakovenko in der Originalpartie übersehen hatte, und der die Partie sofort auf Gewinn stellt.
Die verwendeten Partien beinhalten weitere historische Klassiker, darunter eine der ersten veröffentlichten Partien vom Italiener Greco aus dem Jahr 1620 oder eine Glanzpartie des nach Fischer berühmtesten amerikanischen Schachspielers Paul Morphy aus dem 19. Jahrhundert.
Der Brasilianer Pedro Pinhata hat sich die Mühe gemacht, bei Chess.com alle verfügbaren Partien der Serie zu rekonstruieren und zu analysieren, hier der Link.
Symbolträchtig auch der Schluss, wenn Beth Harmon gekleidet als weiße Dame des Schachspiels (inklusive Koppfbedeckung) auftritt und dann mit den älteren Herren im Moskauer Schach-Park (Drehort der Szene war Berlin mit deutschen Schachspielern als Statisten) einfach nur Schach spielen möchte.
Jetzt hoffen wir, dass bald auch wieder Schach am Brett gespielt werden kann und zum Beispiel auch die unterbrochene Saison der Frauenbundesliga im Mai beendet werden kann. Und wer weiß, vielleicht ist ja nach dem großen Erfolg der Serie jetzt auch die ein oder andere Firma bereit, gerade auch das Frauenschach stärker zu unterstützen und zu fördern.